ver.di-Online-Handlungshilfe
zur Gefährdungsbeurteilung

Gefährdungsbeurteilung systematisch umsetzen - Arbeitsgestaltung auf dem Weg zur Guten Arbeit!

Arbeitsschutzorganisation * Beteiligung der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungen * Gefährdungsminimierung bis Null * Ansatz an Gefahrenquelle * Hierarchie der Arbeitsschutz-Maßnahmen * Vorrang der Verhältnisprävention * TOP-Prinzip bzw. STOP-Prinzip

Eine Sisyphusarbeit, alle vorstellbaren Gefährdungen bei jeglichem betrieblichen Handgriff zu erkennen und zu beseitigen? Mitnichten! Denn Arbeitsschutz geht systematisch vor und verlangt als eine Grundpflicht vom Arbeitgeber, für den Aufbau und kontinuierlichen Erhalt einer geeigneten Organisation des Arbeitsschutzes zu sorgen (ArbSchG § 3, 2).

Arbeitsschutzgesetz
§ 3 Grundpflichten des Arbeitgebers
[...]
(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Absatz 1 [erforderliche Arbeitschutz-Maßnahmen] hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten

1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen sowie
2. Vorkehrungen zu treffen, dass die Maßnahmen erforderlichenfalls bei allen Tätigkeiten und eingebunden in die betrieblichen Führungsstrukturen beachtet werden und die Beschäftigten ihren Mitwirkungspflichten nachkommen können.

[...]

"Geeignet" ist eine Arbeitsschutzorganisation dann, wenn dadurch die Erreichung der zentralen Ziele des Arbeitsschutzes sicher gewährleistet ist:

Die kontinuierliche Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit mit Verhütung von Unfällen, Abwendung von Gesundheitsgefahren und Aufbau und Erhalt einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit (vgl. ArbSchG, §§ 1,1 und 2,1)

Wesentlich für eine funktionierende Arbeitsschutzorganisation ist ausreichende Kooperation und Kommunikation sowie die Beteiligung der Beschäftigten und ihrer gesetzlichen Interessenvertretungen.

Arbeitsschutzorganisation und Beteiligung der Beschäftigten

Ausreichende Kooperation und Kommunikation sowie die Beteiligung der Beschäftigten und deren Interessenvertretungen sind Standards im Arbeitsschutz. Bereits das Arbeitsschutzgesetz selbst zeigt dies in seiner Berücksichtigung aller betrieblichen Akteure für das Funktionieren des Arbeitsschutzes. Siehe dazu unter "Akteure und Strategie" den Abschnitt "Beschäftigte".

Weiteres zur Beteiligung der Beschäftigten, aber auch zur Arbeitsschutzorganisation an sich: Siehe "Ratgeber zur Gefährdungsbeurteilung – Handbuch für Arbeitschutzfachleute" (hrsg. v. d. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin);  hier: Teil 3 Praxishilfen. Außerdem besonders zu beachten:  GDA Leitlinie Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes (2017)

 

Der Arbeitsschutz und damit die Arbeitsschutzorganisation folgt zwei elementaren Grundsätzen:

1. Ziel ist es, Gefährdungen für Leben und Gesundheit auf Null zu setzen bzw. wo dies (z. B. aus technischen Gründen) nicht möglich ist, verbleibende Gefährdungen weitestgehend zu minimieren.

Arbeitsschutzgesetz
§ 4 Allgemeine Grundsätze: Der Arbeitgeber hat bei den Maßnahmen des Arbeitschutzes von folgenden allgemeinen Grundsätzen auszugehen:
1. Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird; [...]

 

2. Um dieses Ziel zu erreichen, setzen die Schutz- und Gegenmaßnahmen primär an der Gefahrenquelle und nicht am zu schützenden Menschen an.

Arbeitsschutzgesetz
§ 4 Allgemeine Grundsätze: Der Arbeitgeber hat bei den Maßnahmen des Arbeitschutzes von folgenden allgemeinen Grundsätzen auszugehen:
[...]
3. Gefahren sind an ihrer Quelle zu bekämpfen;
[...]
5. individuelle Schutzmaßnahmen sind nachrangig zu anderen Maßnahmen;
[...]

 

Aus dem primären Ansatz an der Gefahrenquelle - dem Vorrang der Verhältnisprävention - ergibt sich eine Rangfolge der Arbeitsschutz-Maßnahmen:

Diese Maßnahmenhierarchie im Einklang mit dem Arbeitsschutzgesetz gilt gegen Gefahren und Gefährdungen jeglicher Art: Ob diese nun physisch, psychisch oder physisch und psychisch wirken!

Beispielhaft bezogen auf Tätigkeiten auf einer Baustelle oder im Lager: Es besteht die Möglichkeit herunterfallender Teile.

  1. Muss das sein, dass Teile herabfallen könnten? Die erste und wichtigste Arbeitsschutz-Maßnahme besteht darin, genau dies zu verhindern.
  2. Lässt sich 1. nicht vollständig ausschließen: Muss es sein, dass Menschen dort arbeiten, sich dort aufhalten, wo Teile herabfallen könnten? Mögliche Schutzmaßnahme: Einzäunung oder Sperrung.
  3. Lässt sich 1. nicht vollständig ausschließen und ist 2. nicht generell möglich: Muss es sein, dass Menschen dort arbeiten, sich dort aufhalten, in Zeiten, in denen in diesem Bereich Teile herabfallen könnten? Mögliche Schutzmaßnahme: Temporäre Sperrung.
  4. Lässt sich 1. nicht vollständig ausschließen und sind 2. und 3. nicht möglich: Sofern Menschen in diesem Bereich arbeiten, sich dort aufhalten, sind sie mit einer Persönlichen Schutzausrüstung (PSA) wie u. a. einem Schutzhelm auszustatten.
  5. Die Beschäftigten sind darin zu schulen sowie zu unterweisen und es ist ihnen im Arbeitsablauf die Möglichkeit zu geben: Bestimmte gesperrte Bereiche nicht zu betreten, sich an Warnsignale zu halten, die PSA bestimmungsgemäß zu tragen u. a. m.

Beispielhaft bezogen auf Sachbearbeitungs- bzw. Verwaltungs-Tätigkeiten: Es besteht die Möglichkeit (häufiger) Unterbrechungen durch Kunden- bzw. Klienten-Anrufe.

  1. Muss das sein, dass bei der Sachbearbeitung Kundentelefonate geführt werden? Die erste und wichtigste Arbeitsschutz-Maßnahme besteht darin, diese beiden sich gegenseitig "störenden" Tätigkeitsbereiche voneinander zu trennen, etwa sie verschiedenen Stellen zuzuordnen. (Dabei wäre allerdings auch darauf zu achten, dass durch eine solche Aufgaben-Trennung nicht eintönige und einseitige Tätigkeiten entstehen, denn auch dies stellt eine psychisch wirkende Belastung dar.)
  2. Lässt sich 1. nicht umgehen: Muss es sein, dass beide Tätigkeiten parallel, ergo mit Unterbrechungen, ausgeübt werden? Lassen sich die Arbeiten aufteilen auf mehrere Beschäftigte, die wechselweise in unterschiedlichen Räumen oder abgeschirmten Teilen eines Raums arbeiten? Die mögliche Schutzmaßnahme wäre hier also: Räumliche Trennung für verschiedene Tätigkeitsbereiche.
  3. Lässt sich 1. nicht umgehen und ist 2. nicht möglich: Muss es sein, dass beide Tätigkeiten parallel, ergo mit Unterbrechungen, ausgeübt werden? Eine mögliche Schutzmaßnahme kann die Einrichtung von Sprechzeiten sein. Oder die zeitliche Aufteilung der Aufgaben zwischen den Beschäftigten ("Telefon umstellen"). Schutzmaßnahmen dieser Art zielen auf eine zeitliche Trennung der verschiedenen Aufgaben.
  4. Lässt sich 1. nicht umgehen und sind 2. und 3. nicht möglich: Eine persönliche Schutzausrüstung (PSA) gegen die Arbeit unterbrechende Telefonate ist schwerlich vorstellbar. Wohl aber das Training und Ermöglichen von schützenden Verhaltensweisen. Eine geeignete Arbeitsschutz-Maßnahme könnte dann beispielsweise sein, sich dann, wenn man merkt, dass die Unterbrechungen zum Verlust der Konzentration, zu innerer Unruhe o. Ä. geführt haben, sich in eine bezahlte (Bewegungs-) Pause zurückziehen kann. So wird die Dauer der Exposition, also die Dauer der schädigenden Einwirkung reguliert.
  5. Die Beschäftigten sind darin zu schulen sowie zu unterweisen und es ist ihnen im Arbeitsablauf die Möglichkeit zu geben: Sich an eine vereinbarte räumliche und/oder zeitliche Aufgabentrennung zu halten, die Entlastungspausen zu nutzen u. a. m.

Diese Beispiele können nur mögliche Ausrichtungen von Arbeitsschutz-Maßnahmen skizzieren, denn diese sind von der konkreten Arbeitsgestaltung im Einzelfall abhängig - genau deshalb schreibt das Arbeitsschutzgesetz, § 5, eine Beurteilung der (konkreten betrieblichen) Arbeitsbedingungen vor!

Maßnahmenhierarchie bei physisch und psychisch wirkenden Belastungen - Vorrang der Verhältnisprävention - TOP- bzw. STOP-Prinzip

Die Geltung der Maßnahmenhierarchie für Gefahren und Gefährdungen aller Wirkungsarten steht völlig außer Frage. Bereits die Einleitung der "Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz" (2018) hebt hervor:

"Entsprechend der Rangfolge der Schutzmaßnahmen stehen für die Träger der GDA auch beim Thema 'Psychische Belastung' die verhältnispräventiven Ansätze im Vordergrund. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die gute, das heißt menschengerechte Gestaltung der Arbeitsplätze und Arbeitsabläufe."

Träger der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) sind: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitsstechnik (LASi), Deutsche Gesetztliche Unfallversicherung (DGUV) und Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).

Bekannt ist die Rangfolge der Maßnahmen auch als TOP-Prinzip: Zuerst sind t-echnische, dann o-rganisatorische und zuletzt erst sind p-ersönliche (p-ersonenbezogene) Maßnahmen durchzuführen. Eine Möglichkeit im Bereich technischer Maßnahmen besteht in der S-ubstitution, also dem Ersetzen z. B. eines Arbeitsmittels oder Arbeitsstoffes. Bekannt ist das TOP-Prinzip deshalb auch als STOP-Prinzip. Dieses sprechende Kurzwort hat zugleich den Nachteil, dass die Hierarchie des Vorgehens weniger deutlich anklingt.

 

Wirksame Arbeitsschutz-Maßnahmen folgen stets dieser hier beschriebenen Hierarchie. Welche konkreten Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, hängt dabei direkt von den Tätigkeiten ab: Von den Gefährdungen, die von den Tätigkeiten ausgehen oder die mit ihrer Ausübung verbunden sind.

Das wichtigste Instrument um diese Gefährdungen zu erfassen, ist die Gefährdungsbeurteilung.

Autorin: Anna Wirth