ver.di-Online-Handlungshilfe
zur Gefährdungsbeurteilung

Betriebliche Interessenvertretung und Beschäftigte: Aktiv für die (vollständige) Gefährdungsbeurteilung!

Arbeitgeber-Pflicht * Mitbestimmung * Ausgestaltung Rahmenvorschrift * Verbreitung der Gefährdungsbeurteilung in Deutschland * vollständige und unvollständige Gefährdungsbeurteilung * Gestaltungsmöglichkeiten der Interessenvertretung * Strategie der Interessenvertretung * Beschäftigte ins Boot holen * Betriebsvereinbarungen

Der Pflicht des Arbeitgebers zur Gefährdungsbeurteilung (ArbSchG § 5) steht das Recht, aber auch die Pflicht des Betriebsrats zur Mitbestimmung bei Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz gegenüber. Zu den Aufgaben des Betriebsrates gehört es, „darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden“ (BetrVG § 80,1). Allein auf das Wächteramt kann sich die Interessenvertretung bei der Gefährdungsbeurteilung allerdings nicht beschränken. In der einen oder anderen betrieblichen Situation mag es strategisch sinnvoll sein, zunächst vom Arbeitgeber die Erfüllung seiner Pflicht zu verlangen.

Grundsätzlich zeigt bereits die Formulierung des Arbeitsschutzgesetzes § 5 (siehe dort etwa „insbesondere“), dass es sich hier um eine Rahmenvorschrift handelt, deren konkrete Erfüllung eine betriebsspezifische Ausgestaltung verlangt. So hat dies auch das BAG durch Beschluss im Jahr 2004 untermauert (BAG 08.06.2004, 1 ABR 13/03). Aus Sicht des Arbeitsschutzes ist klar: Geeignete, wirksame Maßnahmen können nur dann durchgeführt werden, wenn sie ganz konkret zu den Arbeitstätigkeiten und der Organisation der Arbeit in einem Betrieb passen. Und eben dafür braucht es die konkrete, betriebsspezifische Gefährdungsbeurteilung.

Soweit, so gut - leider jedoch nur in der Theorie. Obwohl das Arbeitsschutzgesetz und damit die Pflicht des Arbeitgebers zur Gefährdungsbeurteilung seit 1996 besteht, mangelt es in der betrieblichen Rechtswirklichkeit immer noch an der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung. Teilweise wird sie überhaupt noch nicht durchgeführt, aber selbst da, wo dies passiert, ist sie oft unvollständig wie die jeweils aktuellen Ergebnisse verschiedener Befragungen seit mehreren Jahren zeigen:

Verbreitung der - wie gesetzlich vorgeschrieben - vollständigen Gefährdungsbeurteilung

Die Antwort der Bundesregierung vom 1. März 2018 auf eine Kleine Anfrage mehrerer Bundestagsabgeordneter sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen belegt eine Nichteinhaltung des Arbeitsschutzgesetzes. Seit 1996 ist vorgeschrieben, dass Arbeitgeber eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und dabei psychisch wirkende Gefährdungsfaktoren zu berücksichtigen haben. Aus den Ergebnissen dieser Gefährdungsbeurteilungen sind Arbeitsschutz-Maßnahmen abzuleiten, durchzuführen und auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.

Als aktuelle Daten lagen der Bundesregierung die aus der Dachevaluation (Betriebsbefragung) der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) aus dem Jahr 2015 vor. Demzufolge werden in 52 % der Betriebe Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt, von diesen berücksichtigen 41 % psychische Belastungen (siehe Antwort, S. 16). Gerade einmal 21,32 % der Arbeitgeber führen damit eine vollständige Gefährdungsbeurteilung wie gesetzlich vorgeschrieben durch.

Für Schnell-LeserInnen die genannten Zahlen in der Mitteilung der Bundestagsabgeordneten Müller-Gemmeke (Bündnis 90/Die Grünen) vom 13. März 2018.

Noch kritischer sieht es aus, wenn man sich die Zahlen zur Ableitung von Arbeitsschutz-Maßnahmen ansieht. Die diesbezüglichen Ergebnisse der GDA-Betriebsbefragung 2015 differenzieren allerdings nicht bezüglich psychischer Belastungen, es geht also um die Summe aller Arbeitsschutz-Maßnahmen und ihre Wirksamkeit. Gerade einmal in 12,9 % aller Betriebe gibt es auf Wirksamkeit überprüfte Arbeitsschutz-Maßnahmen! (Siehe Antwort, S. 17.) Gesamt gesehen halten sich also lediglich 12,9% der Arbeitgeber an das für sie geltende Arbeitsschutz-Recht!

Außerdem sind diese Zahlen zu hinterfragen mit Blick auf die Qualität der Durchführung der (wenigen) Gefährdungsbeurteilungen: Wurden beispielsweise alle Tätigkeiten der Beschäftigten berücksichtigt? Waren Betriebs- bzw. Personalräte eingebunden, waren Beschäftigte beteiligt? Gleichermaßen ist zu fragen, wie die notwendigen Arbeitsschutz-Maßnahmen abgeleitet, also gefunden wurden.

Unterschiedliche Befragungen lassen sich schlecht direkt miteinander vergleichen, was unter anderem daran liegen kann, dass verschiedene Zielgruppen befragt werden. Die turnusmäßige Befragung durch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung richtet sich an Betriebsräte. Zahlen zur Verbreitung der vollständigen Gefährdungsbeurteilung ergaben sich aus der WSI-Betriebsrätebefragung 2015. Die Ergebnisse sind zusammengefasst veröffentlicht im WSI-Report Nr. 33, 12/2016: "Arbeit und Gesundheit im betrieblichen Kontext". Daraus ergab sich:

  • 78,9 % der befragten Betriebe führen Gefährdungsbeurteilungen durch
  • davon berücksichtigen 31,5 % psychisch wirkende Belastungen
  • insgesamt führen damit ca. 24% der befragten Betriebe eine vollständige Gefährdungsbeurteilung wie gesetzlich vorgeschrieben durch.

Trotz differierender Durchführungsquote der Gefährdungsbeurteilung allgemein sind die Ergebnisse bezüglich der vollständigen Gefährdungsbeurteilung sehr nahe beieinander (GDA: 21,3%, WSI: 24%).

Unterschiedliche Ergebniswerte können sich auch abhängig davon ergeben, ob branchenübergreifend oder branchenspezifisch befragt wurde. Die Repräsentativumfrage des DGB-Index Gute Arbeit 2012 (veröffentlicht im Report, Juni 2013) liefert Ergebniswerte ausschließlich für die Dienstleistungs-Brachen:

Eindeutig bejaht hatten 2012 28 % der Befragten (in Betrieben UND Dienststellen in den Dienstleistungsbranchen) die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung. Vollständig, d. h. auch auf psychisch wirkende Belastungen bezogen waren davon 32 %. Insgesamt wurden damit bei 9% der Befragten vollständige Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt. (Ein direkter Zahlenabgleich ist jedoch nicht möglich, siehe dazu weiter unten).

Zahlen der Repräsentativumfrage 2012 des DGB Index Gute Arbeit:

 

Wie oben bereits erwähnt, ist ein direkter Vergleich der genannten Befragungsergebnisse nicht möglich, weil bei der WSI-Befragung nur Betriebsräte, allerdings aus allen Branchen, bei der DGB-Index-Befragung hingegen Beschäftigte aus den Dienstleistungsbranchen, dabei auch aus dem Öffentlichen Dienst befragt wurden.

Zu weiteren Befragungsergebnissen bezüglich der Durchführung der (vollständigen) Gefährdungsbeurteilung siehe:


Unvollständige Gefährdungsbeurteilung

Unvollständig kann die gesetzlich verpflichtende Gefährdungsbeurteilung also deshalb sein,

  • weil nicht alle von der Tätigkeit ausgehenden Gefährdungen erfasst und entsprechend wirksame Gegenmaßnahmen entwickelt werden – besonders häufig eben bei psychischen Belastungen.

Unvollständig können Gefährdungsbeurteilungen aber beispielsweise auch sein

  • indem sie nicht für alle Tätigkeiten durchgeführt werden
  • indem sie bestimmte Beschäftigtengruppen auslassen (etwa die Bürokräfte im Gegensatz zu den körperlich arbeitenden Beschäftigten).

Während nach Gesetzeslage und ständiger Rechtsprechung alles „klar“ sein sollte und es keiner besonderen Anlässe für die Durchführung einer (vollständigen) Gefährdungsbeurteilung bedarf, sind es in der Realität oft leider bereits eingetretene Schäden und Probleme wie z. B.:

  • steigender Krankenstand
  • zunehmende Langzeiterkrankungen bzw. Anstieg von BEM-Fällen (Betriebliches Eingliederungsmanagement nach SGB IX, § 84, 2)
  • wachsende Zahl sog. burn-out-Fälle
  • besorgniserregende Ergebnisse von Beschäftigtenbefragungen

die zur (vollständigen) Durchführung der Gefährdungsbeurteilung führen.

In der aktuellen Situation in den Betrieben kommt dem Betriebsrat mit seinen Mitbestimmungsrechten und Gestaltungsmöglichkeiten deshalb eine besonders wichtige Rolle zu, um Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz nach vorne zu bringen. (Mit kleinen Unterschieden gilt dies auch für die Personalräte.)

Der Betriebsrat kann seine Rechte nutzen:

  • um vollständige Gefährdungsbeurteilungen im Betrieb einzufordern und durchzusetzen
  • um bei der Ausgestaltung der Gefährdungsbeurteilung (Prozess/Ablauf, Methoden/Instrumente) mitzubestimmen und mitzugestalten
  • um auf wirksamen Arbeitsschutz-Maßnahmen zu bestehen

Der BR kann seine weitreichenden Mitbestimmungsrechte im Arbeitsschutz aber auch dafür nutzen, eine eigene Strategie für die Verbesserung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz zu entwickeln und umzusetzen:

  • um nicht mehr permanent immer neuen Problembaustellen hinterher zu laufen

  • um tatsächlich Prävention voranzutreiben und nicht „Fehlerreparaturen“ - wozu selbst das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) genau genommen gehört
  • um die Gesundheit der Beschäftigten nachhaltig zu schützen und zu fördern

Am besten geht die Interessenvertretung beteiligungsorientiert vor und holt die Beschäftigten von Anfang an ins Boot:

  • um sich besser an den Anliegen der Kolleginnen und Kollegen zu orientieren (Interessen-Vertretung)
  • um sich gegenüber dem Arbeitgeber Rückenwind zu holen
  • um eine Kontrolle zu haben, ob die eigenen Aktivitäten in die richtige Richtung gehen
  • um durch das gezielte Feedback von Kolleginnen und Kollegen zu erleben, dass die eigene Interessenvertretungsarbeit erfolgreich ist

Als Expertinnen und Experten für die täglich von ihnen ausgeübte Arbeit sind die Beschäftigten aber auch deshalb für die erfolgreiche Gefährdungsbeurteilung wichtig:

  • um für die Gefährdungsbeurteilung über die Tätigkeiten und ihre Gefährdungen genauer Bescheid zu wissen
  • um entsprechend passende, also die tatsächlichen Gefährdungen abstellende oder minimierende Arbeitsschutz-Maßnahmen entwickeln zu können
  • um Ideen für Maßnahmen und Verbesserungen direkt aus der Arbeitspraxis zu erhalten
  • damit spätere Arbeitsschutz-Maßnahmen von den Beschäftigten umgesetzt bzw. angenommen werden

Ziel des Betriebsrates sollten Betriebsvereinbarungen sein, die Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz systematisch aufgreifen und einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (siehe ArbSchG §3) ermöglichen.

Die Möglichkeiten für eine bessere Gestaltung der Arbeitsbedingungen, wie sie u. a. das Arbeitsschutzgesetz fordert, gibt der Arbeitsschutz in Kombination mit der Mitbestimmung her – auch wenn es ein oft steiniger Weg ist, können Interessenvertretung und Beschäftigte sehr viel bewegen.

Autorin: Anna Wirth